Zettelgedanken

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# Angesagt!

Zettelgedanken

Am Anfang war das Ganze ein Zettel. 
Darauf hatte Professor Luther seine Thesen geschrieben. 95 Stück.
Zum Beispiel diese: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ‚Tut Buße‘, hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“
Ein Zettel.
Den nagelte der Herr Professor an die hölzerne Tür der Schlosskirche zu Wittenberg.
Wenn die Geschichte stimmt.
Wenn nicht, dann ist sie gut erzählt.
Ein Zettel.
Ungefähr wie diese Zettel, auf denen ein WG-Zimmer gesucht wird.
Oder eine Waschmaschine abzugeben ist. 80 Euro Verhandlungsbasis.
Am Anfang war das Ganze ein Zettel.
Da, um gelesen und diskutiert zu werden.
Öffentlich. Im Stehen.
Mit fuchtelnden Händen. Nicken. Kopfschütteln.
Laut werden. Lachen. Fluchen.
Fettige Fingerabdrücke sind darauf.
Vom Zeigen. Hier! Siehst du nicht?! Das meint er!
Am Anfang war das Ganze ein Zettel.
Heute ist es in Bronze gegossen.
Die Thesentür an der Wittenberger Schlosskirche.
Oben drüber: Luther und Melanchthon.
Links und rechts vom Kreuz kniend.
Neue Heilige?
Die 95 Thesen in Bronze gegossen.
Unverrückbar. Undiskutierbar. Fertig.
Vor der Thesentür ist ein Zaun aus Metall.
Touristengruppen stehen da.
Bitte lächeln! Weltgeschichte.
Zu Hause dann Millionen Mal das gleiche Foto.
Was, wenn sie alle über den Zaun geklettert wären?
Die Menschen.
In den letzten Jahren.
Und Jahrzehnten.
Und Jahrhunderten.
Was, wenn sie alle die Buchstaben berührt hätten?
Mit ungewaschenen Händen.
Manche riechen noch nach Bratwurst vom Stand gegenüber.
Nicht auszudenken, was dann geschehen wäre.
Die Buchstaben hätten im Lauf der Jahre zu glänzen begonnen.
Zu leuchten.
Nicht auszudenken!
„Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ (2Kor 3,6)
Am Anfang war das Ganze ein Zettel.  

Vikar Stefan Jankowski


(Foto:  A. Savin, Wikimedia Commons)

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