Paradies

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# Pfarrerin Gorgas denkt ...

Paradies

„…wie den Sand am Ufer des Meeres.“ 1. Mose 22,17

Wahrscheinlich hätte sie sich nicht auf den Weg gemacht. Wahrscheinlich hätte sie zu sich und den anderen gesagt, dass ihr die Zeit sowieso schon unter den Händen zerrinnt wie Sand. Wahrscheinlich und hätte.
Ihre Freundin lud sie einfach ein und nahm sie mit. „Du musst mal raus.“ Und nun war sie mittendrin, hielt die Eintrittskarte in der Hand und begann zu gehen. Nach wenigen Schritten war klar, dass sie die verkehrten Schuhe trug, dass Schuhe überhaupt fehl am Platze waren. Das Paradies war am besten barfuß zu entdecken. Also, Schuhe aus. Auf nackten Sohlen, etwas unsicher im Tritt. Sie lachte. Adam und Eva waren schließlich auch nackt gewesen. Im Paradies.
Nun spürte sie den Sand unter ihren Füßen. Warm und weich. Paradiesische Zustände. Die Seele konnte atmen. Die Kunst der Schöpfung tat sich vor ihr auf.
Nur Sand. Nur Kunst. Nur Leben. „Welcome to Paradise!“ stand geschrieben. Menschen hatten gecurft.
Sie lief und übersetzte den Anblick des Paradieses in ihr Leben.
Paradies der Kindheit. Im Garten spielen. Den Eltern Kuchen backen. Aus Sand natürlich. „Hm, köstlich, dein Kuchen.“
Ihre Kinder waren gesegnet mit Sandspielzeug. In jedem Urlaub gab es neues. Heimlich warf sie kaputte Formen weg und verstand die Tränen nicht. „Die Schildkröte war doch so schön!“ Wie oft hatte sie sich über den Sand auf dem Küchentisch aufgeregt. „Du sollst mir nicht immer den Dreck in die Wohnung schleppen.“ „Ist doch leckere Pizza.“ „Nein, das ist bloß Sand!“ Das Ende der Schöpfung.
Sie spürte den warmen Sand unter ihren Füßen, der Panzer von Ordnung und Pflicht begann langsam zu schmelzen. Die Zeit verlor die Bedeutung, die sie ihr zugedacht hatte. Einteilen. Optimieren. Effektivität erzielen.
Wie Sand am Meer. Die uralte Geschichte tauchte auf. Nahm Form an. In Kindertagen gehört. „Geh, Abraham. Mach dich auf den Weg!“ GOTT hatte ihm Nachkommen versprochen, wie Sand am Meer. Unglaublich. Ganz und gar keine kindische Geschichte. Sondern die Wahrheit über Schöpfung und Kindschaft. Wie weit musste Abraham gehen, um bei sich und seinem Geschaffensein anzukommen?
Ihre Füße sanken immer tiefer ein. So lange stand sie schon vor der großen Skulptur der Schöpfung. Immer neue Details sah sie. Großartig, wie aus dem Schwanz des Drachens die chinesische Mauer erwuchs. Genial, der Bildschirm mit Maus und Elefant. Anrührend, der Kopf der Afrikanerin. Eine Welt aus Sand. Geschaffen von Menschenhand. Kreativ und inspiriert. Durch den Atem GOTTes wird der Mensch ein lebendiges Wesen. So wird es erzählt in der Geschichte vom Paradies. Ganz am Anfang.
Irgendwann löste sie sich vom Anblick dieser Sicht auf das Paradies. Es gab ja noch andere Werke zu betrachten und zu bedenken. Jeder Mensch sieht sein Paradies anders. Jeder Künstler sowieso. Keiner reicht an die Gesamtschau heran. Den endgültigen Blick hat nur der EWIGE. Sie sah sich das Liebespaar an, den Käseberg mit der fröhlichen Ratte und die Skulptur mit den vielen Apfelabdrücken. So viel Paradies auf einer Fläche. Ihre Freundin berührte sie. „Ich hab jetzt Lust auf einen Kaffee!“ Gesegnete Realistin! Noch einmal ließ sie ihren Blick schweifen. Sah die Menschen, die über die Kunst nach-dachten. Hörte die Kinder, die einfach mit Sand spielten und wunderbare Kuchen bereiteten. Sie hakte sich bei der Freundin unter: „Danke!“ Am Ausgang lasen sie das Eingangschild. Die erste Information zuletzt, wie immer: „Die Auswahl des richtigen Sandes ist eine kleine Wissenschaft für sich, die große Sorgfalt erfordert. Chemische Zusammensetzung, Profil der Körner, Farbe und Reinheit sind wichtige Faktoren.“ Paradiesische Zustände eben.

Pfarrerin Barbara Gorgas


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