Es war einfach genug Stimme da!

Es war einfach genug Stimme da!

Es war einfach genug Stimme da!

# Pfarrerin Gorgas denkt ...

Es war einfach genug Stimme da!

„… die Vöglein hört man singen, die loben GOTT mit Freud’.
(Evangelisches Gesangbuch 501,1) 

Gestatten: Nachtigall. Ich soll hier vorsingen. Ach nein, ich meine natürlich, ich soll mich hier vorstellen. Das heißt, natürlich ist das nicht, denn ich kann gar nichts anderes als singen. Aber das würde jetzt zu weit führen…

Also da bin ich. Und da singe ich. Nacht für Nacht. Die Menschenkinder, die um mich herum wohnen, versuchen sich zu erinnern, wann sie mich zum ersten Mal gehört haben. Als ob das irgendetwas an meinem Gesang ändern würde. Ich war einfach da. Als der Frühling kam. Als meine Reise beendet war. Ich sei ein Zugvogel, sagen die Menschen. Ich käme aus Afrika und flöge dahin zurück. Ja, ja. Jetzt bin ich genau hier. Sagte ich schon, dass ich singe? Die Menschen sagen, ich gehöre zu den abwechslungsreichsten Singvögeln überhaupt. Menschen müssen immer alles einordnen, systematisieren, festhalten. Sie haben sogar ein System erdacht, mit dem sie Musik festhalten können. Sie sagen Noten dazu. Da fällt mir ein, einmal hat einer Worte eines anderen in solche Noten verwandelt, und ein wunderschönes Lied ist entstanden. Der eine heißt Felix Mendelssohn-Bartholdy. Der andere heißt Goethe. Er ist ein Dichter. Er ordnet Wörter. Ich liebe ja viel mehr das Ungeordnete. Ich bevorzuge, in dichtem Gesträuch, in verwilderten Gärten, auf Friedhöfen zu leben.

Aber zurück zu Goethe. Nein, das ist nicht der mit der Nachtigall und der Lerche, das war ein anderer. Ihr wisst schon, der mit dem Balkon, mit Romeo und Julia. Der mit der Liebe eben. Ach ja, die Liebe. Ich sei der Vogel der Liebenden. Ja klar singe ich um der Liebe willen. Ich muss eine Partnerin finden. Es ist nicht gut, dass die Nachtigall allein sei. Und so muss ich singen. Auch, wenn da einer kommt und meint, besser singen zu können. Das ist jedes Jahr neu anstrengend. Aber was tut man nicht alles für die Familie. Und dann muss ich singen, wenn meine Kinder von mir den Gesang erlernen. Schule und Elternhaus ganz dicht beieinander. Schließlich will ich ja, dass wir Nachtigallen eine Zukunft haben. Letztes Jahr zum Beispiel habe ich meinen Kindern das Märchen von der Nachtigall vorgesungen. Das hat auch so ein Träumer erdacht. Andersen heißt der. Seine Nachtigall belebt sogar den Kaiser von China. Inzwischen sind den Menschen die Kaiser ausgegangen, aber das Märchen ist geblieben. Dank uns Nachtigallen. Weil, aber das sagte ich wohl schon, wir einfach toll singen.

Eigentlich kein Wunder, denn der HERR unser Gott, der uns gemacht hat, hat uns gemeinsam mit den Fischen geschaffen. Und die sind bekanntlich stumm. Es war einfach genug Stimme da, ist doch logisch, oder? Also singen wir, singe ich. Jetzt und hier. Übrigens haben die Menschen herausgefunden, dass wir Nachtigallen uns stimmlich entwickelt haben. Wir sind lauter, oder besser gesagt, stärker geworden. Damit man uns hört im Lärm einer Großstadt. Wir können gegen Straßenkrach ansingen, wirklich wahr, wissenschaftlich erwiesen.

Aber hört mir doch einfach zu ihr Menschenkinder. Hört einfach mein Schluchzen und Jubilieren. Denkt nicht so viel. Und stört mich bitte nicht. Versucht nicht, mich zu finden, zu orten, wie ihr sagt. Wer die Nachtigall stört, stört die große Lebensmelodie GOTTes. Ich weiß, dass ist manchmal schwer und die Menschen müssen ja noch so unendlich mehr können als singen. Meinen sie wenigstens. Und es ist ja auch eine beachtliche Leistung, dass sie Rechenmaschinen erfunden haben, die unseren Gesang jederzeit per Mausklick im weltweiten Netz für jeden hörbar machen. Leider hat das so gar nichts mit dem Leben zu tun. Wenn das doch die Menschen verstehen könnten.

Ach, ich werde schon wieder melancholisch, und ich wollte doch praktisch und vernünftig und geordnet meine Vorstellung zu Ende bringen. Daraus wird wohl wieder nichts. Ich kann eben nur singen. Jetzt bin ich gern hier und singe. Und sagt bitte nicht, dass ihr mich trapsen hört. Das gehört sich nicht. Ich singe. Wunderschön.

Pfarrerin
Barbara Gorgas


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